Kurzgeschichten

Achtung! Die Geschichten auf dieser Seite sind nicht unbedingt "cozy".
In meinen Kurzgeschichten behandle ich gerne die Schattenseiten des Alltags. 

 

Die Feder

 

(Diese Geschichte wurde in der Augustausgabe 2025 im Kunst Kultur Literatur Magazin (#kkl) veröffentlicht)

Jede Nacht, wenn der Mond durchs Fenster scheint, hört sie seine Schritte. Leise und vorsichtig kommen sie immer näher. Ein gleichmäßiges Klack-klack, Klack-klack. Hin und wieder unterbrochen, wenn er lauschend vor einer verschlossenen Türe verharrt. Nur niemanden wecken, niemand darf ihn hören auf seinem nächtlichen Gang.

Sie weiß das. Darum bleibt sie still. Wartet reglos in ihrem Bett aus rotem Samt, bis seine Schritte ihre Türe erreichen. Ein letztes Mal Verharren, ein letztes Lauschen, dann das vertraute, helle Knarren. Leise, nur leise, niemand kennt diesen Raum, niemand darf ihn entdecken.

Sie bebt. Er atmet erleichtert auf, lehnt keuchend an der Tür. Sie wartet geduldig. Regt sich nicht auf ihrem roten Kissen. Er braucht Zeit, sie weiß das. Nach einer Ewigkeit kommt er auf sie zu. Seine Hand liebkost sie zärtlich. Streicht sanft über ihren weichen Körper. Sie regt sich nicht. Noch ist ihre Zeit nicht gekommen. Sie ist geduldig.

Nun hebt er sie hoch aus ihrem samtenen Bett. Der Tanz beginnt. Doch er ist ein schlechter Tänzer. Er stockt, kommt aus dem Takt und flucht darüber. Noch einmal von vorne. Wieder das gleiche Spiel. Er kann den Rhythmus nicht halten. Seine Bewegungen werden abgehackt. Er stolpert, flucht. Sie wartet.

Das Kerzenlicht flackert. Der Dichter wird müde. Seine Augen brennen. Langsam, ganz langsam gleitet er ab ins Reich der Träume. Nun beginnt ihre Stunde. Seine Hand wird zu ihrer Stütze, sie schmiegt sich zwischen seine Finger. Zu neuem Leben erwacht findet sie den Rhythmus, nach dem er zuvor vergeblich suchte. Jede Nacht das gleiche Spiel. Sie tanzt. Tanzt seinen Traum. Draußen leuchtet still der Mond.

Sie wiegt sich im Takt seines Herzens. Dreht Pirouetten zur Melodie seines Atems. So tanzt sie die ganze Nacht und wird erst müde, wenn der Morgen graut. Dann zieht sie sich wieder in sich zurück, wird wieder still.


Langsam wacht er wieder auf. Ganz sachte und vorsichtig legt er sie zurück in ihr weiches Bett aus rotem Samt. Liebkost sie ein letztes Mal. Dann verlässt er leise den Raum. In der Hand hält er ein Bündel Papier. Auf den weißen Blättern ihre getanzten Spuren seines Traumes.

Er wird wieder kommen. Wenn der Mond scheint, nächste Nacht.

 


 



Sonntag

 

 

Ein Sonntag-Morgen im Mai. Mir ist kalt, aber ich hänge in der Sonne. Es hat die ganze Nacht geregnet. Vielleicht wird es weiterregnen. Der Himmel ist noch nicht völlig leergewaschen, da schwimmt noch eine dicke, schwarze Wolke. Ihre Kinder verdecken die Sonne manchmal kurz, dann wird mir noch kälter.

Der Wind weht warm und mild. Ein richtiger Frühlingshauch. Er lässt ein paar letzte Kirschblüten in meine Richtung tanzen. Hübsch.

Vor mir lässt sich eine Amsel nieder. Sie singt. Eigentlich „er“, es sind ja die Männchen, die singen. Das Lied klingt schön, aber ich mag keine Amseln. Im Winter hatte ich ein Vogelhaus aufgestellt. Wollte Vögel beobachten. Das habe ich auch getan. Alle haben sie gefressen, geflattert und gepiept. Und geteilt. Nur die Amseln nicht. Die haben immer versucht, die anderen Vögel zu verjagen. Aggressive Viecher. Da kann mir der schwarze Vogel vor mir noch so schön vorsingen. Ich mag keine Amseln.

Ein paar Nachbarn gehen vorbei. Ich kenne sie kaum. Nur vom Sehen. Normalerweise grüßen sie recht höflich. Heute nicht. Heute sehen sie mich nur komisch an. Das tun sie sonst auch, wenn sie mir begegnen. Aber sonst grüßen sie dabei recht höflich. Heute nicht.

Ich fürchte, ich bin anders als die Menschen in meiner Umgebung. Vielleicht benehme ich mich auch einfach nur anders.

Ich bin Naturgärtner. Das mögen die Nachbarn nicht. Weil mein Garten Ungeziefer anzieht, sagen sie.

Ich bin Träumer mit einer hervorragenden Ausbildung. Das mag mein Chef nicht. Meine Vorschläge sind so unrealistisch, sagt er. Später präsentiert er sie als seine eigenen im Führungsmeeting und wird für seine Innovationen gelobt.

Ich bin spontan und sammle Erfahrungen. Das mag meine Familie nicht. Du musst doch einen sicheren Hafen finden, sagen sie. Damit meinen sie die Ehe. Dabei sind sie selbst die besten Vorbilder: alle seit Jahrzehnten unglücklich verheiratet. Aber verheiratet.

Ich bin kreativ. Das mögen meine Freunde nicht. Du hast immer so verrückte Ideen, sagen sie. Aber sie zeigen sich dankbar, wenn ich ihnen bei Anlässen unter die Arme greife. Professionell würde sie das gleiche Ergebnis teuer Geld kosten, sagen sie dann.

Manchmal frage ich mich, ob mich die Menschen und ihre Meinung überhaupt interessieren. Schließlich richte ich mich sowieso nicht danach. Ich lache und weine trotzdem meine eigenen Tränen. Ich tue, was ich tun muss. Ich folge meinen Prinzipien. Das macht mich glücklich, unabhängig und frei.

Ich hatte ein schönes Leben. Und hier, in der Sonne, auf meinem Balkon wird mir auch endlich warm. Die Wolken lösen sich doch noch auf. Ich habe einen schönen Tod.

Ich mag keine Amseln. Flieg weg!


 

 




Fast reife Birnen

(Diese Geschichte wurde in der Septemberausgabe 2025 im Kunst Kultur Literatur Magazin (#kkl) veröffentlicht)

Es war der Tag, an dem die erste Birne vom Baum fiel. Ich kann mich gut erinnern: Als ich nachmittags nach Hause kam lag sie da. Die Schnecken, Wespen und andere Krabbeltiere hatten sich schon gierig über sie hergemacht und ich war traurig. Ich lebte in einer winzigen Wohnung im Erdgeschoß und dazu gehörte ein noch winzigeres Stückchen Grün. Es reichte gerade so für einen Liegestuhl, ein paar Blumen und eben diesen Birnbaum im Topf. In diesem Jahr trug er exakt sieben Früchte.

Die Schnecken durften alles essen. Den Salat verzieh ich ihnen, die Ringelblumen auch. Für die Wespen hatte ich extra eine hübsche, gelbe Vogeltränke aufgestellt. Vögel verirrten sich selten in meine Nische. Doch von den Birnen war jede einzelne kostbar für mich. Es tat mir leid um die süße Frucht.

Die Traurigkeit blieb den ganzen restlichen Tag bei mir. Es machte mir keine Freude zu kochen, also aß ich nicht. Ich konnte mich auf kein Buch und keinen Film einlassen, also las ich nicht und sah nicht fern. Ich saß nur auf dem Sofa und starrte vor mich hin. Vor meinem inneren Auge sah ich die zerfressene Birne im Gras liegen und der Kloß in meinem Hals bahnte sich einen Weg durch meine Augen. Tränen flossen und flossen, bis ich mich völlig ausgedörrt fühlte und Schluckauf bekam.

Ich wusste, ich sollte aufstehen und ein Glas Wasser trinken, aber anstatt mich aufzurichten, glitt ich kraftlos auf den Boden. Hier fühlte ich mich besser und die Tränen flossen weiter. Meine Augen schwollen an, bis ich sie kaum noch offen halten konnte. Ich darf nicht einschlafen, ich muss noch meine Zähne putzen, dachte ich. Zähneputzen ist wichtig. Einer der Polster lag in Reichweite und auch die Decke, die ich nie wegräumte. Irgendwann in der Dunkelheit wachte ich auf. In meiner eingerollten Haltung drückte der Hosenbund genau auf meine Blase. Sie tat schon richtig weh, ich hatte doch nicht jedes bisschen Wasser herausgeweint.

Der Rest von mir war steif. Mein Arm war auf dem harten Boden eingeschlafen und komplett taub, dafür fühlte meine Hüfte sich wund an, wie aufgescheuert. Ich wollte mich nicht bewegen. In meinem Mund lag ein ekelhafter Geschmack und meine Blase begann, pulsierend zu stechen.

Irgendwie kam ich auf die Toilette und hatte es sogar geschafft, unterwegs die Zahnbürste mitzunehmen. Während ich saß und der Strahl vor lauter Verkrampfung nicht einmal richtig Erleichterung brachte, bürstete ich mir notdürftig über die Zähne.

Rote Flecken auf dem Klopapier. Blut. Ich seufzte. Wann würde ich endlich zu alt für diesen Zirkus sein?

Als ich mir die Unterhose hochzog, setzte der Schmerz ein. Zur Hose kam ich nicht mehr, ich sackte direkt vor der Toilette zusammen. Zum Glück lag dort wenigstens ein weicher Teppich, es war ja nicht das erste Mal. Ich konnte dem Schmerz nicht einmal vorwerfen, ohne Ankündigung zu kommen. Im Gegenteil, wie ein echter Zirkus kam er angerauscht, mit Glöckchen und Fanfaren, als ob er mir von Ferne schon zeigen wollte: Es gibt kein Entkommen. Ob ich wollte oder nicht, ich würde die ganze Vorstellung sehen. Jedes einzelne Mal war für mich ein Platz in der ersten Reihe vorgesehen.

Dieses Mal war es der Clown mit der Lanze, der mich zuerst erreichte. Mit voller Wucht stieß er sie mir in den Unterleib, sodass ich minutenlang zusammengekrümmt auf dem weichen Kloteppich lag, die Hose halb um meine Füße gewickelt. Erst, nachdem ich die Überraschung des ersten Angriffs halbwegs überwunden hatte, schaffte ich es, mich im Hocken irgendwie ganz aus ihr herauszuwinden. Sie blieb gemeinsam mit der Zahnbürste einfach liegen. Es war egal. Ich kroch auf allen Vieren langsam und mit vielen Pausen in mein Bett. 

Viele Menschen wären in so einer Lage bestimmt dankbar, jemanden um sich zu haben, ich nicht. Ich war einfach nur froh darüber, jetzt alleine zu sein. Ich konnte mich gut um mich selbst kümmern. Neben meinem Bett stand immer eine Flasche Mineralwasser. Es war mir zwar ein Rätsel, aber das gekaufte Wasser hielt länger als selbst abgefülltes aus der Leitung, das nach einer Weile nur noch widerlich schmeckte. Ich musste mich aber zum Trinken zwingen, denn je öfter ꟷ nein, umgekehrt, je weniger ich auf die Toilette ging, umso länger dauerte es. Es war auch so eine Ewigkeit.

Wenigstens war nichts mehr wichtig, nicht einmal mehr die Birne. Es gab nur noch den Schmerz in meiner Welt. Die Stunden ꟷ oder Tage, ich wusste es nicht ꟷ bestanden nur aus glühenden Spießen in meinem Unterleib, rotierenden Peitschen in meinem Magen und einer kreischenden Kakophonie aus Tinnitus, Atemgeräuschen und dem Rascheln meiner Haare, die meinen Kopf zersprengen wollte. Begleitet von wilden Fieberträumen, die nur unterbrochen wurden, wenn eine gnädige Ohnmacht mir eine kurze, schwarze Pause gewährte.

Ich hatte längst jedes Gefühl für Zeit verloren, als die Träume endlich leichter wurden, der Schmerz verglühte und der Zirkus langsam seine Zelte abbrach. Das geschah fast unmerklich und ohne irgendeine Erleichterung. Mein erschöpfter Körper fiel irgendwann einfach in einen tiefen Schlaf.

Zwei Tage später lag ich matt auf meinem Liegestuhl. Die Schnecken hatten sich inzwischen so richtig fettgefressen und anscheinend noch ihre gesamte Verwandtschaft zum Resteessen eingeladen. Von sieben fast reifen Birnen sind mir noch drei geblieben. Immerhin.